Kano hat 1889 mit zahlreichen Schülern vor hochrangigen Vertretern des Erziehungsministeriums eine Demonstration von Judo gegeben und dabei einen Vortrag "Über Judo allgemein sowie sein(en) Wert für die Erziehung" gehalten, der im Anhang von Niehaus' Arbeit fast vollständig ins Deutsche übersetzt abgedruckt ist (S. 268-294). Die Passagen über die Ausbildung des Intellekts befinden sich auf den Seiten 288-290. Niehaus selbst fasst die wesentlichen Inhalte von Kanos Gedanken auch unter Hinzuziehung weiterer Quellen auf den Seiten 235-238 zusammen.
Soweit die Vorbemerkungen, nun zum eigentlichen Inhalt, nämlich dem Beitrag zu ener Schulung des Intellekts durch Judo.
Kano nennt 6 Stufen bzw. Aspekte einer Ausbildung des Intellekts:
- Beobachtung
- Erinnerung
- Überprüfung
- Phantasie
- Sprache
- "Große Kapazität"
Beobachtung alleine kann aber noch keinen eigenen Fortschritt erbringen - man muss sich auch an das Beobachtete erinnern. Auf diese Weise wird das Gedächtnis geschult. Aus eigener Erfahrung kann ich anfügen, dass mit der Zeit eine besondere Form des Gedächtnisses entsteht, nämlich die Fähigkeit, ein visuelles (Ab-)Bild von Bewegungsabläufen zu speichern. Diese gespeicherten Bewegungsabläufe wiederum beeinflussen die Fähigkeit zum genauen Beobachten, da Wahrnehmung grundsätzlich von Aufmerksamkeit und Erwartung geleitet wird, die als eine Art Filter die sensorischen Informationen, die aktiv bei der Konstruktion einer Wahrnehmung zu einem Ab-Bild der Wirklichkeit verwendet werden, abhängig ist. Aufmerksamkeit und Erwartung sind aber von Vorerfahrungen und "gespeichertem Wissen" - also vom Gedächtnis - gelenkt.
Beobachtetes und Gespeichertes haben aber immer noch keine praktische Relevanz, wenn es nicht praktisch überprüft wird. Das Üben von Techniken wird also zu einem Akt der ständigen (Selbst-)Überprüfung, ob das, was man tut, auch das ist, was man machen soll. Für Kano geht die Überprüfung aber noch einen Schritt weiter: Er fordert ein gründliches Durchdenken von Situationen, um ein tiefes Verständnis zu erreichen - was aber immer wieder der Überprüfung in der Praxis standhalten und sich an ihr orientieren muss.
Zur nächsten Stufe ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, wenngleich die Hürde groß ist: Probleme müssen mit Hilfe von Phantasie gelöst werden. Ist "Überprüfung" auch im Sinne von "Nachvollziehen" zu verstehen, kommt hier der Aspekt der Problemlösung hinzu. Heute würde man statt Phantasie wohl eher "Kreativität" sagen (BTW: es gab einmal in einer alten Ausgabe der Judo-Revue einen hervorragenden Artikel zu Kreativität im Judo-Unterricht). Gerade der Ausbildung der Phantasie/Kreativität weist Kano eine große Bedeutung zu und grenzt hier den Meister vom Schüler ab ("Kano wörtlich: Man entwickelt neue Ideen und wird Meister genannt").
Eine weitere Form der intellektuellen Schulung ist die Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten, die Kano in erster Linie auf das Lehren bezieht. Wir dürfen hier nicht vergessen, dass Vorträge und "Frage und Antwort" Übungsformen des Judo waren/sind. Das Verbalisieren und der mündliche Austausch gehören zum Lehr- und Lernkonzept des Kodokan-Judo (im Gegensatz zu traditionellen Lernformen in den Kampfkünsten.) und zwar sowohl zwischen Lehrer - Schüler als auch der Schüler untereinander, wobei zu beachten gilt, dass es natürlich das Kohai/Sempai-System gab (ich verstehe hier beide als Schüler).
Schlussendlich sieht Kano auf der höchsten Ebene die "Große Kapazität". Sie beruht auf zwei Säulen: dem Neuen aufgeschlossen zu sein und die Fähigkeit zu besitzen, unterschiedliche Theorien verknüpfen, unterscheiden und schließlich zusammenfügen zu können. Dazu Kano mahnend:
- "Aber wer seine Meinung zu stark beschützt, kann keine Fortschritte machen" (S. 289)
- "Neues nicht abzulehnen, ist die erste Fähigkeit der großen Kapazität und für jeden Fortschritt wichtig" (S. 290)
Letztlich kann man die "Große Kapazität" symptomatisch für Kanos eigenen Lebensweg sehen: stets war er neugierig auf Neues, stets hat er versucht, sich wissenschaftliche Erkenntnisse zunutze zu machen, niemals aber war er ein unkritischer "Aktualist", sondern stets ein Mann, der Neues mit Altem verknüpft hat und dabei beidem - dem Alten wie dem Neuen - kritisch gegenüberstand und es sorgfältig auf seine Prinzipien hin überprüfte. (BTW: für mich ist gerade diese Geisteshaltung der Grund dafür, dass Kano später auf der Suche nach Universalprinzipien war, die auf alle Lebensbereiche anwendbar waren - sie sollten schlicht die "ultimativen Kriterien" sein, an denen man sein Leben und seine Entscheidungen ausrichten konnte.)
Kanos Konzept der intellektuellen Schulung innerhalb der Leibeserziehung war revolutionär, vor allem für Japan seiner Zeit. Dass dies auch noch im Rahmen einer Kampfkunst stattfand, ist besonders bemerkenswert, da die Kampfkünste in dieser Zeit keine gute öffentliche Reputation hatten - und schon gar nicht in intellektueller Hinsicht.
Kanos Stufung findet durchaus Analogien in westlichen Lerntheorien, worauf ich jetzt aber nicht weiter eingehen möchte. Festhalten möchte ich aber, dass Kano mit der Einbeziehung intellektueller Schulung Judo und seine Praxis in eine neue Dimension gehoben hat:
- Judo als Gegenstand "wissenschaftlicher" und problemorientierter Betrachtung (physiologisch, medizinisch, biomechanisch),
- Judo lernen als "sich üben in intellektuellen Methoden" (Wolfgang Hofmann sprach folgerichtig immer von "studieren" einer Technik, einer Kata oder von Judo insgesamt)
- Judo vermitteln als Unterstützung der Entwicklung des Intellekts