Auf der Suche nach wissenschaftlicher Literatur zum Thema "Bushido als invented tradition" bin ich auf folgende Disseration von Yoko Nakamura mit dem Titel "Bushido-Diskurs - Die Analyse der Diskrepanz zwischen Ideal und Realität im Bushidō-Diskurs aus dem Jahr 1904" gestoßen:
http://othes.univie.ac.at/3182/
Im Abstract heißt es:
Der Schwerpunkt meiner Hauptthematik, die Analyse der Diskrepanz zwischen Realität und Ideal im Bushidō-Diskurs aus dem Jahr 1904, liegt auf der „Reproduktivität“ einer neu „erfundenen“ Tradition (invented tradition) im Fall Japans. In Anlehnung an Hobsbawm's These richtet sich meine Fragestellung nach dem Wesen einer japanischen Moralform, die auch heutzutage in der japanischen Gesellschaft einen wichtigen Stellenwert einnimmt.
Im Prozess der grundlegenden Reform des Staatswesens in der Meiji-Zeit (1868-1912) erkannte Japan die Notwendigkeit einer Moralform auf nationaler Ebene, der einst mit dem Aufstieg der Kriegerschicht um das 16. Jahrhundert entstandene Moralkodex der Samurai, das Bushidō. Dieser wurde in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt und sollte auch die rekonstruierte Loyalitätsstruktur in direkter Verbundenheit mit dem Tennō und dem Volk ermöglichen. Jedoch mussten sich die Intellektuellen in erster Linie mit der Diskrepanz zwischen Realität und Ideal konfrontieren. Bereits in der Phase der Verfeinerung des Bushidō während der Edo-Zeit (1603-1867) führte folgender Zwiespalt zur Problematik mit dem Wesen der Moral: Einerseits kreierten die herrenlosen Samurai ihre eigene Form von Moral, die zum Teil dem Shogunat kritisch gegenüber stand - ihre Kritik an die zeitgenössische Gesellschaftsform blieb zunächst auf „privater“ Ebene - andererseits strebte das Shogunat nach einer „öffentlichen“ Moralform. Dieser Zwiespalt zwischen der privaten und der öffentlichen Norm erforderte die Präzisierung der Bedeutung von „Privatheit“ und der „Öffentlichkeit“ im Zusammenhang mit der Bushidō-Konzeption. In deren Gegenüberstellung versucht meine Arbeit den Stellenwert des Bushidō-Diskurses in der Entwicklung von privater auf öffentliche Ebene zu etablieren.
Insbesondere im Bereich der Geschichtswissenschaft ist der Aspekt vorherrschend, Bushidō als historisch bedingte Moralform zu determinieren, dessen Aktualität in der heutigen Gesellschaft nicht im Sinne ist. Jedoch weist meine Forschung darauf hin, dass zwei Bushidō-Diskurse für den Übergang von Tradition zur Gegenwart verantwortlich sind, welche Zweifel an der Diskontinuität des Bushidō hervorrief. Der erste Bushidō-Diskurs entflammte, als der Konflikt um das Wesen der Loyalität nach der Rache der 47 Samurai im Jahr 1703 ausbrach.
Der Kampf um die Vormachtstellung Japans in der Meiji-Zeit führte zu erneuten Überlegungen um Ehre, Pflicht und Scham der Bushidō-Konzeption. Widersprüchliche Elemente in Bezug auf Selbstmord und Kriegsgefangenschaft während des Russisch-Japanischen Krieges (1904-1905) gaben den Anlass für den zweiten Bushidō-Diskurs im Jahr 1904.
Infolgedessen konzentriert sich der erste Teil der Arbeit auf den ersten Bushidō-Diskurs während der Edo-Zeit und legt maßgebend das Wesen der Privatheit in der japanischen Herr-Untertan-Beziehung fest. Die Konfrontation mit dem Zwiespalt in der Loyalitätsstruktur stellte somit die Basis für den Wandel vom Moralbewusstsein der Krieger zur einheitlichen Moralkonzeption her. Der Hauptteil meiner Arbeit legt diesen Prozess der Nationalisierung der Moralform im Zuge der radikalen gesellschaftlichen Umorientierung dar und behandelt die Frage der Kontinuität des Moralbewusstseins anhand des zweiten Bushidō-Diskurses.
Die Analyse des zweiten Bushidō-Diskurses stellt auch meine These unter Beweis, dass Bushidō in der „Formalität“ der Moral seine Traditionalität bewahrte. Jedoch trug die Auseinandersetzung mit dem im Bushidō konzipierten Moralbewusstsein, das sich im Einfluss der westlichen Moralphilosophien zum einheitlichen Bewusstsein (im Sinne einer gefühlsmäßigen Wahrnehmung des Irrationalen) der Japaner entwickelte, zur Kontinuität des Bushidō bei. Dies verleiht auch heutzutage dem Bushidō seine Gültigkeit. Diesbezüglich untersucht meine Arbeit nicht nur die Frage nach der „Reproduzierbarkeit“ einer Tradition, sondern auch das reziproke Verhältnis des Formalismus und des Idealismus in der rekonstruierten Bushidō-Konzeption.