Ich spiele jetzt zunächst mal den advocatus diavoli. Beiderseitig, ja?
Ich mach jetzt ja doch seit ein paar Jahren BJJ, aber Fußhebel hab ich immer noch nicht so sehr auf dem Schirm - jedenfalls werde ich viel häufiger in (geraden) Fußhebeln "erwischt" als in anderen Submissions. Gar nicht zu sprechen von Kniehebeln, welche jedenfalls nach IBJJF-Regeln ja erst ab Braungurt bzw. je nach Hebelrichtung gar nicht erlaubt sind. Auch der in Katame-no-kata gezeigte Ashi-gatame ist ja nach IBJJF-Regeln als "knee-ripping" komplett verboten.
Darum geht es aber doch eigentlich nicht im Kern, denn da ist durchaus zutreffend, was Fritz formuliert: Ein offenes Randori ist ja wirklich eine tolle Sache und wer einmal (erfolgreich) so "frei" gekämpft hat wie im BJJ, wird sich im Judo im Nachhinein vielleicht etwas eingeschränkt fühlen. Aber dennoch ist es für einen aktiven Judoka meines Erachtens kontraproduktiv, regelmäßig Beingreifer zu trainieren bzw. im Randori anzuwenden oder zu verteidigen, da sich dadurch gewisse Strategien entwickeln, die später im reglementierten Judo-Wettkampf ineffizient/ineffektiv sein dürften, da der Gegner ja ohnehin keine Beingreifer anwenden darf und dementsprechend auch nicht wird (oder das dann eben sanktioniert wird). Analog gilt das auch für andere Geschichten wie Beinhebel und Atemi. Wer da im Kopf problemlos umschalten kann: Hut ab.
Ich sage nun aber nicht, dass es schaden kann, mal über den Tellerrand zu gucken. Im Gegenteil: Das kann sehr bereichernd sein. Aber dabei muss es doch wohl für einen Judoka bleiben, wenn er konzentriert für seine Wettkampf-Karriere trainieren möchte. Natürlich kann man sich dann trotzdem noch Bereicherung im BJJ abholen. Aber das muss dann doch wohl stark eingeschränkt auf das bleiben, was ein Judoka im Judo-Wettkampf brauchen kann. Der Vorteil für viele BJJ-Kämpfer liegt ja auch darin, dass Inaktivität im Boden erst nach 20 Sekunden mit einem "Action!" sanktioniert wird und nicht sofort mit Aufstehenlassen. Wenn BJJ oft mit Schach verglichen wird, dann kommt mir Judo-Bodenkampf oft wie Blitzschach vor - nur mit dem Risiko, dass der Referee nach 3 Sekunden das Brett vom Tisch wirft (Hab ich das schonmal gesagt?).
Aber trotzdem wieder von der anderen Seite betrachtet: Es dürfte wohl kopfmäßig einfacher sein, Strategien zur Vermeidung von Beingreifern im Judo-Wettkampf auszublenden und sich auf die (aktuell geforderten) Kernkompetenzen zu konzentrieren, als andersherum: Ohne Kompetenzen im Beingreif-Bereich in einem BJJ-Wettkampf sich noch schnell was überlegen. Ich denke, sonst hätten viele auf Beingreifer doch regelrecht konditionierte Wettkämpfer wohl kaum die "Transition" von 2009 zu 2010 geschafft, oder?
Das nur mal so als ein paar Gedanken, warum ein Austausch toll ist, aber eben für Judoka meines Erachtens nur eher eingeschränkt in Frage kommt - dabei aber keineswegs komplett ausgeschlossen sein sollte.
Was ich übrigens auch mal bemerken möchte: "Provinz-Judo", wie es meines Erachtens in vielen kleinen Vereinen stattfindet, hat ja wohl auch wenig zu tun mit dem, was in richtig erfolgreichen Wettkampf-Vereinen und -Gemeinschaften stattfindet. Da wird am Boden auch nicht mehr "nur die Endposition" geübt. Dass der typische Schwarzgurt "aus der Provinz" am Boden von jedem BJJ-Blaugurt (wohlgemerkt: das ist die erste Graduierung im BJJ!) vernichtet wird, halte ich da für wenig überraschend (immerhin ging es mir anfangs genau so

). Wer mal hochkarätige Judoka (ich sag mal ab 2. Bundesliga aufwärts mit Tendenz zu "aufwärts") am Boden erlebt hat, weiß wovon ich spreche
Allerdings wurde mal auf einer Judo-Trainer-Ausbildung (C, Leistungssport) ein "Experte für Bodenkampf" präsentiert, der in seiner Trainingseinheit dann auch nur die Endpositionen gezeigt hat. Ich möchte das Expertenwissen nicht anzweifeln - für einen Provinzler wie mich war der definitiv gut und BJJ hab ich damals auch noch nicht gemacht - aber das fand ich auch schon damals doch recht bezeichnend
Worauf ich letzlich hinaus will: Wir haben doch mit Sicherheit einen Konsens, dass man kaum sagen könnte, der eine Sport sei "besser" als der andere. Das hoffe ich zumindest. Geschmäcker seien mal außen vor: Wenn Hofi BJJ langweilig findet, kann ich das nachvollziehen und natürlich respektieren. Ich kann mir Shido-Sammelei auch nicht immer angucken. Und der eine tolle Wurf alle paar Minuten reißt es dann auch nicht immer raus (man muss sowas ja auch mal Gesamtkontext eines Turniers sehen). Aber so ist das eben und jeder hat so seine Vorlieben

Was man aber suchen könnte, wären gemeinsame Ansatzpunkte. Auf dem letzten Forentreffen wurde ich von Christian gebeten, mal eine "Brasilian"-Einheit zu geben. Ich war damit spontan etwas überfordert, aber ich hab versucht, das beste draus zu machen und ich hoffe jedenfalls, dass jeder davon etwas mitnehmen konnte (und sei es nur, dass BJJ langweilig ist^^). Schwerpunkt der Einheit waren jedenfalls guard und guard-sweeps - wenn ich mich recht erinnere, hab ich es dabei belassen und keine guard-passes gemacht. Generell ist die "guard" und mögliche Aktionen daraus bzw. dagegen ja ein Konzept, das man im Judo kennt (Prüfungsprogramm 5. Kyu, erinnert sich jemand?), aber zumindest in der breiten Masse kaum zu schätzen weiß, glaube ich... (hochkarätige Judoka mal außen vor). So wie einer unserer Schwarzgurte dem Nachwuchs mal einen guard-pass gezeigt hat, bekäme man im Leben keine normal-gute guard gepassed...
Wie könnte man das ändern? Und eben dafür sorgen, dass BJJ Judo nicht überholt, sondern mit Judo koexistiert? Auf einer gemeinschaftlichen, von Austausch geprägten Ebene...
Da fand ich tutor!'s Aussage vor etwa einem Jahr ganz treffend: Denn was hindert mich daran, einen Porsche
und einen Kombi zu besitzen?
tutor! hat geschrieben:Ich sehe aber hier gar keine Konkurrenz um dieselbe "Kundschaft", sondern ich sehe einen "Markt" der groß genug für verschiedene Anbieter ist, die sich durchaus in Nuancen unterschiedlich präsentieren. Es werden ja auch nicht weniger Porsches verkauft, nur weil es schnelle Kombis gibt.