Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Hier geht es um die Geschichte und um Traditionen des Judo
tutor!
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Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von tutor! »

Ist eigentlich immer Judo drin wo Judo draufsteht? Beschreibt Judo eigentlich einen eindeutig definierbaren Inhalt? Kann es sein, dass Leute aneinander vorbei reden, wenn beide von Judo sprechen, aber doch Unterschiedliches meinen? Wäre dies nicht eine klassische Ursache für Missverständnisse?

In Niehaus Dissertation ist im Anhang ab Seite 300 ein Artikel Kanos von 1930 im Ganzen enthalten, in dem er die "Nationale Leibesübungen nach dem Prinzip der effektivsten Nutzung der Energie" ausführlich erläutert. Gestolpert bin ich über die Seiten 305 bis 307, in denen sich Kano intensiv zu Jujutsu und Judo äußert. Es beginnt mit:

Der Unterschied zwischen jujutsu und judo ist dem Laien nicht bekannt. (S. 305)

Und einige Zeilen weiter schreibt er:

Aber das Kodokan-Judo unterscheidet sich sowohl in Zweck als auch größtenteils in der Methode (i.S.v. Technik) vom alten jujutsu. Es existieren zwar Verbindungen und Ähnlichkeiten, aber der Kern ist ein anderer.

Kano macht also deutlich, dass ein wirklich grundsätzlicher Unterschied zwischen dem alten jujutsu und dem Kodokan-Judo besteht. Er präzisiert weiter und macht den klaren Gegensatz deutlich:
Wenig Aufmerksamkeit wurde (im alten jujutsu) auf die Verantwortung des Menschen gelegt. Die Substanz der Erziehung war das Lehren der Technik. Im Kodokan wurde die Lehre begründet, dass das Lehren des Weges die Substanz und die Technik die Anwendung des Weges ist. (S. 306)

Im weiteren führt er aus, dass es in "den Kampfkünsten und gleichsam in gesellschaftlichen Dingen und eigentlich bei allen Dingen" (S 306) darum geht, Körper und Geist möglichst effektiv einzusetzen. Die Anwendung dieses Prinzip (ergänzt um die Dimension der Verantwortung) bezeichnet er in der Folge als "Judo im weiteren Sinne" (jodan judo) und die konkrete Anwendung in den Kampfkünsten als "Judo im engeren Sinne" (gedan judo). (Anm.: an der Stelle weist Niehaus selbst auf eine Übersetzungsproblematik bei "Kampfkünste" hin - bitte also nicht zu wörtlich nehmen - vielleicht kann Reaktivator diese Passage genau nachschlagen?)

Kano selbst unterscheidet also zwei verschiedene Begriffsbedeutungen von Judo - Was nun konkret gemeint ist, muss aus dem Kontext erschlossen werden - sofern Kano nicht explizit ein Begriffsverständnis vorgibt.

Leider ist es aber nicht ganz so einfach, denn im Laufe der Jahrzehnte hat sich zu Kanos Leidwesen noch eine andere Bedeutung von "Judo" eingebürgert. Er schreibt dazu (S. 306):

Hätten die Leute das alte jujutsu weiterhin als jujutsu bezeichnet und die Bezeichnung judo beschränkt auf Kodokan-Judo, dann wäre die Unterscheidung einfach. Aber seit das Kodokan den Ausdruck Judo verwendet, begann man auch die alten Jujutsu-Stile als Judo zu bezeichnen, so dass schließlich kein Unterschied mehr gemacht wurde.

Im allgemeinen Sprachgebrauch hatte sich also eingebürgert (BTW nicht ohne dass Kano auch einen Teil dazu beigetragen hätte), dass man Judo als Sammelbegriff für sowohl das Kodokan-Judo als auch das alte jujutsu gebrauchte. Dieses war jedoch, wie Kano zuvor erläutert hatte, vom Kodokan-Judo grundverschieden.

Letztlich war dieser unsaubere Sprachgebrauch für Kano der Anlass ein Judo im engeren Sinn und ein Judo im weiteren Sinn zu unterscheiden. Niehaus merkt dazu an, dass diese Kano´sche Sprachregelung aber außerhalb des Kodokan nicht aufgegriffen wurde, sondern Judo weiterhin als Oberbegriff für Kodokan-Judo und Jujutsu verwendet wurde.

Endgültig hat sich diese Begriffsdeutung durchgesetzt, als die Butokukai 1942 umstrukturiert wurde und Abteilungen für Kendo, Judo, Kyudo, Bajonett und Schießen bekam. Zur Erinnerung: die Butokukai war der Zusammenschluss aller Kampfkünste mit mehreren Millionen Mitgliedern und dem Auftrag, Mulitiplikatoren für Polizei, Militär, Schulen und Universitäten auszubilden. Das Programm wurde allerspätestens ab 1942 komplett militärisch ausgerichtet und war damit alles, nur kein Kodokan-Judo mehr - weder im engeren, noch im weiten Sinne. Es war schlicht Jujutsu, das als Judo bezeichnet wurde.

Die Generation der heute 75- bis 85-jährigen Japaner wurden in dieser Zeit ausgebildet. Wenn diese Generation von Judo vor dem Ende des WW2 spricht - Judo was und wie es damals in ihrer Jugend war - sprechen sie über das Kodokan-Judo Kanos oder sprechen sie über das, was sie damals als Kinder und Jugendliche unter dem Namen Judo gelernt haben?

Kano selbst hat 1930 geschrieben, dass es drei verschiedene Bedeutungen des Wortes Judo gibt - und dass vieles verwechselt wird. Machen wir nicht denselben Fehler wie Kanos Zeitgenossen - und schon gar nicht den Fehler zu glauben, dass alles, was vor dem WW2 als Judo bezeichnet wurde auch tatsächlich Kodokan-Judo war.
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Fritz
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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von Fritz »

@tutor!: Du konstruierst hier ein Scheinproblem, bzw. verstrickst
Dich in Widersprüche befürchte ich... ;-)
Kano im 'Niehaus' (Seite 306) hat geschrieben: Jûjutsu wurde immer als eine Form der Kampfkünste betrachtet. Aber jûdô ist keine Form der Kampfkünste, sondern die Kampfkünste sind eine Form des jûdô. Also ich daran dachte, jûdô einen anderen Namen als jûjutsu zu geben, war das jûdo noch nicht so weit entwickelt, daß die Kampfkünste als Anwendung des
jûdô bezeichnet werden konnten.
Kano im 'Niehaus' (Seite 307) hat geschrieben:Das jûdô im weiten Sinne wäre der Weg der vorteilhaftesten
Anwendung von Körper und Geist, während das jûdô im engen Sinne als jûjutsu oder ähnliche Kampfkünste verstanden werden sollte. [Text aus der Fußnote:]Wenn man
dies so betrachtet, wird deutlich, daß budô und bujutsu eine Anwendung des jûdô sind.[Weiter mit Haupttext:] Die Kampfkünste können gegliedert werden in Schwertkunst, Speerkunst, Stockkunst und waffenlose Künste. Wo ich den Ausdruck waffenlose Künste verwende, spricht man allgemein von jûjutsu
[ ... ]
Das alte jûjutsu ist jedoch in Wirklichkeit nicht waffenlos. Es ist zwar oft waffenlos, aber
man verwendet sowohl Schwert, als auch Dolch; mitunter sogar Speer und Schwertbrecher (jitte). Jûjutsu ist keiner bestimmten Art der Kampfkünste zuzuordnen. Es kann vielmehr als synthetische Kampfkunst bezeichnet werden. Die Bezeichnung jûjutsu
stimmt also nicht gut mit der Realität überein. Aber warum die Bezeichnung jûjutsu?
Es folgt eine Erläuterung des Prinzips "Stärke durch Sanftheit beherrschen" (jûnô seigô).
Kano im 'Niehaus' (Seite 307ff) hat geschrieben:Dieses Prinzip findet in vielen Situationen Anwendung, und daher nennt man diese Schulen "sanft" beziehungsweise "Künste der Sanftheit". Aber das sogenannte jûjutsu kennt nicht nur solche Situationen. Nehmen wir an, der Gegner
packt kräftig das Handgelenk. In einem solchen Fall läßt sich die Hand nicht mit Hilfe des
Prinzips "Stärke durch Sanftheit beherrschen" lösen.
Es folgt die Erläuterung des Beispiels und die Einführung des übergreifende Prinzips
"die Kraft des Geistes und des Körpers möglichst effektiv anzuwenden"
Kano im 'Niehaus' (Seite 308) hat geschrieben:Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Bezeichnung jûjutsu nicht gut zum Gegenstand passt. Aber es ist nichts neues, daß Namen nicht zum bezeichneten Objekt passen. Deshalb sollte man jûjutsu nicht nur im Sinne einer Bedeutung verwenden, sondern als eine Art synthetische Kampfkunst verstehen.
Wenn also gelten solle:
tutor! hat geschrieben:Das Programm wurde allerspätestens ab 1942 komplett militärisch ausgerichtet und war damit alles, nur kein Kodokan-Judo mehr - weder im engeren, noch im weiten Sinne. Es war schlicht Jujutsu, das als Judo bezeichnet wurde.
dann heißt es also zusammen mit obigen Kanos Zitaten nur, daß in der Butokukai letztendlich
eine Anwendung des jûdô praktiziert wurde, eine Form des jûdô
halt. Das leugnet aber tutor! im selben Atemzug in seiner Aussage. Widerspruch q.e.d.

"Bereinigen" könnte man den Widerspruch natürlich, ;-)
indem das "Jita kyoei" Prinzip mit ins Spiel gebracht wird und angenommen wird,
daß dieses ab 1942 in der Butokukai nicht mehr beachtet wurde.

Nur - die obigen und tutor!s Kano/Niehaus-Zitate behandeln die technische Seite
der Begriffe Judo u. Jujutsu, nicht die "moralische".

Also nehme ich mal unverschämt an, die "alten Vorkriegs-Judoka" sprechen
zumindestens von der technischen Seite des Judo im engeren oder weiteren Sinne.

Vor diesem Hintergrund sind diese Fragen:
tutor! hat geschrieben:Ist eigentlich immer Judo drin wo Judo draufsteht? Beschreibt Judo eigentlich einen eindeutig definierbaren Inhalt? Kann es sein, dass Leute aneinander vorbei reden, wenn beide von Judo sprechen, aber doch Unterschiedliches meinen? Wäre dies nicht eine klassische Ursache für Missverständnisse?
natürlich trotzdem berechtigt.

Mögliche Bedeutungen für "Judo" zum Aneinandervorbeireden sind in meinen Augen:
a) Kampfkunst/Techniken gemäß des Effizienz-Prinzips
b) a + dem moralischen Prinzip
c) die Anwendung von b) auf _alles_ im Leben.
d) simple Leibesertüchtigung
e) Das heutige "Sportjudo" - so wie es durch die aktuellen Wettkampfregeln und dort erlaubte Techniken definiert ist.
f) Ein älteres "Sportjudo" (also durch ältere Wettkampfregeln definiert usw...)
...
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von Hofi »

Fritz hat geschrieben: Wenn also gelten solle:
tutor! hat geschrieben:Das Programm wurde allerspätestens ab 1942 komplett militärisch ausgerichtet und war damit alles, nur kein Kodokan-Judo mehr - weder im engeren, noch im weiten Sinne. Es war schlicht Jujutsu, das als Judo bezeichnet wurde.
dann heißt es also zusammen mit obigen Kanos Zitaten nur, daß in der Butokukai letztendlich
eine Anwendung des jûdô praktiziert wurde, eine Form des jûdô
halt. Das leugnet aber tutor! im selben Atemzug in seiner Aussage. Widerspruch q.e.d.

"Bereinigen" könnte man den Widerspruch natürlich, ;-)
indem das "Jita kyoei" Prinzip mit ins Spiel gebracht wird und angenommen wird,
daß dieses ab 1942 in der Butokukai nicht mehr beachtet wurde.
Hi!
Eine Bereinigung des Widerspruches ist in meinen Augen nicht nötig, da er so nicht besteht. Man muss das Prinzip des Jita kyoei auch nicht "ins Spiel bringen". Es ist grundsätzliches Prinzip des Kodokan-Judo und eine rein militärische Ausrichtung gerade in Zeiten einer von Japan als Angriffskrieg geführten Auseinandersetzung widerspricht diesem Prinzip in meinen Augen (und ich bin mal so vermessen zu behaupten auch in Kanos Augen) diametral und stellt, selbst bei Verwendung der Techniken des Kodokan-Judo, keine Anwendung des Kodokan-Judo dar.
Bis dann
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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von Fritz »

Eine Bereinigung des Widerspruches ist in meinen Augen nicht nötig, da er so nicht besteht. Man muss das Prinzip des Jita kyoei auch nicht "ins Spiel bringen".
Wenn aber über den Begriff des Judos im historischen Kontext diskutiert wird und dafür Kano-Zitate
ins Spiel gebracht werden, dann ist es schon erlaubt, genauer hinzuschauen.
Jita-Kyoei wurde von Kano relativ spät eingeführt, am Anfang stand Seiryoku Zenyo.

Und auf dieses Prinzip zielten die Literaturstellen ab und laut der Literaturstellen ist Jujutsu
eine Anwendung, eine Form des Judo und führen tutor!s Aussage "formal" in den Widerspruch.
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von Lin Chung »

Nein, Jujutsu ist keine Form des Judo, sondern Judo ist ein Jujutsu Stil und somit ist da kein Widerspruch.
Meine Meinung.
Grüße
Norbert Bosse
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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von Fritz »

Nein, Jujutsu ist keine Form des Judo, sondern Judo ist ein Jujutsu Stil und somit ist da kein Widerspruch.
Das mag aus der Sicht von Nicht-Judoka so stimmen.
Was interessieren "Außenstehende" auch Details...

Nur Kano selbst sieht es anders. Und deshalb hielt er wohl diese Vorträge / Aufsätze, um die "Außenstehenden"
über seiner Auslegung der Begriffe "aufzuklären".
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von Jobi »

Für mich ergaben sich bisher einerseits Unterschiede zwischen Koryu-jujutsu und Judo:
1.: das Fehlen des moralischen Prinzips Jita Kyo ei
2.: Do, Weg der Daseinsbewältigung als Methode zur Wandlung des Menschen
3.: die Methode der Umsetzung (Trainingskonzepte, Systematisierung, usw.) und Anwendung der Techniken (Randori und Shiai)

Andererseits sind aber die technischen Prinzipien, aber auch die Methoden zur Umsetzung der Techniken (Kihon, Drills, Kata) des Jujutsu im Judo (vor WW2) enthalten.
Die Punkte 1 und 2 wurden in den 1930er / 1940er Jahren dann halt schon eher vernachlässigt, Judo wieder auf Jujutsu plus Punkt 3 reduziert.

Ist vielleicht alles zu stark vereinfacht dargestellt von mir.

MfG
Jobi
Mit freundlichen Grüßen
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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von Hofi »

Fritz hat geschrieben:
Eine Bereinigung des Widerspruches ist in meinen Augen nicht nötig, da er so nicht besteht. Man muss das Prinzip des Jita kyoei auch nicht "ins Spiel bringen".
Wenn aber über den Begriff des Judos im historischen Kontext diskutiert wird und dafür Kano-Zitate
ins Spiel gebracht werden, dann ist es schon erlaubt, genauer hinzuschauen.
Jita-Kyoei wurde von Kano relativ spät eingeführt, am Anfang stand Seiryoku Zenyo.

Und auf dieses Prinzip zielten die Literaturstellen ab und laut der Literaturstellen ist Jujutsu
eine Anwendung, eine Form des Judo und führen tutor!s Aussage "formal" in den Widerspruch.
Hi!
Ich denke aber, dass Kano das Prinzip des Jita Kyoei vor 1942 eingeführt haben dürfte und es damit zu dem für die Frage, ob das, was am Butokukei spätestens nach seiner rein militärischen Ausrichtung, gelehrt wurde noch Kodokan-Judo im Sinne Kanos sein konnte als bestehend vorausgesetzt werden muss. Und wie gesagt, spätestens ab der rein militärischen Ausrichtung kann das kein Kodokan-Judo mehr sein. ;)
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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von Lippe »

Hofi hat geschrieben:Ich denke aber, dass Kano das Prinzip des Jita Kyoei vor 1942 eingeführt haben dürfte [...]
Das kann getrost als gesichert gelten, da Jigoro Kano bereits im Jahr 1938 gestorben ist.
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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von tutor! »

Also in meinem Beitrag kann es eigentlich keine Widersprüche - zumindest nicht von mir "eingebaut" - geben.

Kano beschäftigt sich in diesem Abschnitt mit dem Verhältnis zwischen Judo, Jujutsu und Bujutsu/Budo, wobei er - wie Niehaus anmerkt - offenbar nicht sprachlich zwischen Budo und Bujutsu unterscheidet.

Ich habe eigentlich nichts anderes gemacht, als Begriffserklärungen, die Kano zum Begriff "Judo" gegeben hat, extrahiert und festgestellt, dass Kano allein drei verschiedene Bedeutungen des Begriffs unterscheidet.
- (Kodokan-)Judo im engeren Sinn
- (Kodokan-)Judo im weiteren Sinn
- Judo als Oberbegriff für Kodokan-Judo und das alte Jujutsu

Da ich hier weder etwas interpretiert noch Schlussfolgerungen gezogen habe, sondern ausschließlich Kanos Definitionen wiedergegeben habe, können eigentlich keine Widersprüche enthalten sein - es sei denn Kano selbst wäre widersprüchlich. Aber ich finde ihn in seinen Aussagen ziemlich klar.

Dennoch finden wir in den Folgebeiträgen einige widersprüchliche Punkte, die genau dann entstehen, wenn "Vorwissen", Meinungen oder eigene Interpretationen ins Spiel kommen.
Lin Chung hat geschrieben:Nein, Jujutsu ist keine Form des Judo, sondern Judo ist ein Jujutsu Stil und somit ist da kein Widerspruch.
Meine Meinung.
Damit schreibst Du, was DU unter Judo und was DU unter Jujutsu verstehst. Kano versteht aber etwas anderes darunter, denn (Kodokan-)Judo unterscheidet sich, wie aus dem Text deutlich wird, für Kano vom Jujutsu sowohl dem Zweck als auch größtenteils der Methode nach - mit einem Wort: in seinem Kern! Judo ist - für Kano - also absolut kein Jujutsu-Stil, sondern etwas, was zwar der Laie durchaus verwechseln kann, aber eben doch gegensätzlich ist.
Fritz hat geschrieben: Wenn also gelten solle:
tutor! hat geschrieben:Das Programm wurde allerspätestens ab 1942 komplett militärisch ausgerichtet und war damit alles, nur kein Kodokan-Judo mehr - weder im engeren, noch im weiten Sinne. Es war schlicht Jujutsu, das als Judo bezeichnet wurde.
dann heißt es also zusammen mit obigen Kanos Zitaten nur, daß in der Butokukai letztendlich
eine Anwendung des jûdô praktiziert wurde, eine Form des jûdô
halt. Das leugnet aber tutor! im selben Atemzug in seiner Aussage. Widerspruch q.e.d.
Nur Beschuldigte leugnen.... Das, was unter dem Erziehungsaspekt des bedingungslosen Gehorsams und der Opferbereitschaft bis in den Tod betrieben wurde, widersprach vollkommen dem Gedanken des "Wechselseitigen Gedeihens" der Menschheit. Es war vollkommen unabhängig von den konkreten Techniken KEINE Anwendung des (Kodokan-)Judo im weiteren Sinn. An der Stelle ist Deine Interpretation Kanos falsch, da Du bis hier hin scheinbar im Prinzip jede Form des Jujutsu als Anwendung des (Kodokan-)Judo im weiten Sinne verstehst. Das kann es aber doch nur sein, wenn auch die Prinzipien des Judo gewahrt bleiben......

Zum Glück bekommst Du selbst die Kurve:
Fritz hat geschrieben:"Bereinigen" könnte man den Widerspruch natürlich, ;-)
indem das "Jita kyoei" Prinzip mit ins Spiel gebracht wird und angenommen wird,daß dieses ab 1942 in der Butokukai nicht mehr beachtet wurde.
Denn genau so war es und das war meine Aussage. Aber sie nannten es dennoch Judo.....
Fritz hat geschrieben:Nur - die obigen und tutor!s Kano/Niehaus-Zitate behandeln die technische Seite
der Begriffe Judo u. Jujutsu, nicht die "moralische".

Also nehme ich mal unverschämt an, die "alten Vorkriegs-Judoka" sprechen
zumindestens von der technischen Seite des Judo im engeren oder weiteren Sinne.
Eine Annahme, die ich nicht nachvollziehen kann. Lies bitte nach.
Kano erläutert den Unterschied zwischen Judo und Jujutsu und stellt voran, dass das alte Jujutsu keine Verantwortung kannte. Damit spricht er eindeutig die moralische Dimension an.

Aber wie kommst Du zu Deiner Annahme, dass die "alten Vorkriegs-Judoka" auf der technischen Seite ein Judo im engeren und ein Judo im weiteren Sinn unterscheiden/unterschieden haben? Das gibt dieser Text nicht her! Wenn sie es denn taten/tun, zeugt das von nichts anderem, als dass sie Kano nicht verstanden haben. Judo im engeren Sinn ist für Kano die Kampfkunst, Judo im weiteren Sinn ist für Kano die Anwendung der Prinzipien in allen alltäglichen Verrichtungen. Judo im weiteren Sinn ist die "artless art" ein metaphysisches Konzept, das sich zwar aus der Kampfkunst heraus entwickelt wurde, sich aber davon gelöst hat und nun als Verhaltens-Maxime und Entwicklungskonzept unser gesamten Leben durchzieht. Alles, was wir tun und diesem Konzept entspricht, sind Anwednungen von Judo.
Fritz hat geschrieben: Mögliche Bedeutungen für "Judo" zum Aneinandervorbeireden sind in meinen Augen:
a) Kampfkunst/Techniken gemäß des Effizienz-Prinzips
b) a + dem moralischen Prinzip
c) die Anwendung von b) auf _alles_ im Leben.
d) simple Leibesertüchtigung
e) Das heutige "Sportjudo" - so wie es durch die aktuellen Wettkampfregeln und dort erlaubte Techniken definiert ist.
f) Ein älteres "Sportjudo" (also durch ältere Wettkampfregeln definiert usw...)
...
Mögliche Bedeutungen oder Themenfelder?
Kano selbst benennt drei verschiedene Begriffsdeutungen von Judo. Wir können dem natürlich eigene (Be-)Deutungen hinzufügen, aber das dürfte die Kommunikation nochmals erschweren.
Jobi hat geschrieben: (..s.o..)
Ist vielleicht alles zu stark vereinfacht dargestellt von mir.
Knapp dargestellt, trifft aber den Kern der Sache - insofern finde ich es nicht zu stark vereinfacht.

Wir sollten als erstes damit beginnen, Kanos Stoßseufzer zu beherzigen und nur das Kodokan-Judo, so wie es von Kano konzipiert wurde, mit dem Begriff Judo versehen. Dabei gilt zu beachten, dass - auch das geht aus dem Text hervor - dieses eine Entwicklung durchgemacht hat. Judo im engeren Sinn wäre das "frühe" Kodokan-Judo mit seinem technischen Rahmen, seinen Übungs- und Trainingsformen und selbstverständlich mit seinen späteren Ergänzungen - mit einem Wort: das, was man im Dojo macht.

Judo im weiteren Sinn ist das später entwickelte Prinzip der (frei formuliert) "Effektivsten Nutzung der körperlichen und geistigen Energie zum wechselseitigen Gedeihen in allen Lebenssituationen".

So hat es Kano definiert und so sollten wir den Begriff Judo auch verstehen - selbst wenn er nicht rechtlich geschützt ist und auch von anderer Seite mit anderen Bedeutungen belegt worden ist.
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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von Fritz »

tutor! hat geschrieben:Kano erläutert den Unterschied zwischen Judo und Jujutsu und stellt voran, dass das alte Jujutsu keine Verantwortung kannte. Damit spricht er eindeutig die moralische Dimension an.
Eben. Und er schreibt auch:
Kano im Niehaus ... hat geschrieben:Aber jûdô ist keine Form der Kampfkünste, sondern die Kampfkünste sind eine Form des jûdô.
Wie können also die Kampfkünste eine Form des Jûdô sein, wenn sie "verantwortungslos" sind?
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von tutor! »

Fritz hat geschrieben:
Kano im Niehaus ... hat geschrieben:Aber jûdô ist keine Form der Kampfkünste, sondern die Kampfkünste sind eine Form des jûdô.
Wie können also die Kampfkünste eine Form des Jûdô sein, wenn sie "verantwortungslos" sind?
Bitte genau lesen: beim alten jujutsu wurde wenig Aufmerksamkeit auf die Verantwortung gelegt - Kanos spricht hier nicht von den Kampfkünsten generell. Doch zu dieser feinen Differenzierung später.

Sie - die Kampfkünste - sind nicht generell "verantwortungslos" - genauso wenig wie per se "verantwortungsvoll" - und es wäre auch falsch, Kano in der einen oder anderen Richtung zu verstehen. Zuvor hat er im Text ja deutlich gemacht, dass der Kern des (Kodokan-)Judo ein anderer ist, als der des alten Jujutsu. Präziser hätte er formulieren bzw. ergänzen müssen "Kampfkünste sind eine Anwendung des Judo, wenn sie den Prinzipien des Judo entsprechend betrieben werden. Das alte Jujutsu ist es nicht"

Man müsste nun in den japanischen Originaltext hineinschauen, um vielleicht noch Feinheiten zu entdecken, aber Kano hat - für mich - offensichtlich auch einen ganz anderen Zweck verfolgt.

Wir sind am Beginn der Showa-Zeit in der die Ideologie immer nationalisitscher wurde und der Patriotismus so langsam in immer radikalere Formen der Kokutai-Ideologie zu münden. Kano stand dieser Entwicklung reserviert gegenüber.

Er verfolgte eine Strategie, die Kampfkünste einer politisch-ideologischen Instrumentalisierung zu entziehen, indem er sie unter das philosophische Dach des Judo lockte. Mehr darüber hier (http://www.dasjudoforum.de/forum/viewto ... 771#p41771). Diesen Führungsanspruch musste er legitimieren, was er durch die knappe Formel: "Judo ist nicht Teil von Budo - Budo ist eine Anwendung des Judo" tat. Nochmals sei auf die Anmerkung von Niehaus verwiesen, der in diesem Absatz sowohl Budo als auch Bujutsu pauschal mit "Kampfkünste" übersetzte. Auch hier wäre das japanische Original zur Rate zu ziehen.

Der Sinn erschließt sich jedoch zweifelsfrei aus dem Kontext, denn wenn sich Judo und (das alte) Jujutsu in ihrem Kern unterscheiden, kann (das alte) Jujutsu unmöglich eine Anwendung von Judo sein. Innerhalb einer Seite macht er dreimal auf den großen Unterschied aufmerksam.

Es ging Kano um die Richtung, die Japan allgemein und die Kampfkünste speziell nehmen. Und dazu differenzierte er eben sehr fein in diesem Text zwischen Kampfkünsten und Jujutsu - Kampfkünste "passen" und "gehören" unter das Dach des Judo - Jujutsu dagegen ist etwas völlig anderes. Damit ist klar, um wen er warb, aber auch klar, wovon er sich abgrenzen wollte.

Damit kommen wir aber mitten in eine der spannendsten Fragen der Spätzeit Kanos: sein Kampf als dem Tenno gegenüber loyaler japanischer Partiot gegen die immer radikaler werdende Kokutai-Ideologie und den letztlich gescheiterten Versuch, den Kodokan als Bollwerk gegen den ideologischen Missbrauch der Kampfkünste - allen voran durch die Butokukei - zu positionieren. Diese Diskussion sollte bei Bedarf in dem Patriotismusfaden geführt werden, denn...

... hier ging es mir aber nur darum deutlich zu machen, dass im Vorkriegsjapan keinesfalls mit dem Begriff "Judo" immer dasselbe gemeint wurde und dass wir, wenn wir alte Texte über Judo lesen, uns immer wieder auf´s neue klar werden müssen, was der Autor unter "Judo" nun konkret verstanden hat. Im Zweifel hat er es nicht dazu geschrieben und wir müssen das Begriffs-Verständnis des Autors aus dem Kontext erschließen. Wenn wir aber von einer anderen Begriffsbedeutung ausgehen, werden wir den Text zwangsläufig falsch verstehen.

Je mehr es uns gelingt, in Kano den engagierten Politiker zu sehen, der er war, den Politiker der sich in den Vorkriegsjahren mit all seiner Kraft gegen eine sich abzeichende ideologische Fehlentwicklung in der Erziehung der Jugend stemmte und der gleichzeitig auf internationalem Parkett um das Ansehen Japans und um den Gedanken der Völkerverständigung durch Sport gekämpft hat, desto mehr werden wir verschiedene Dinge einordnen können. Dazu gehört seine Strategie, sich den anderen Kampfkünsten zu nähern, den Kodokan für sie zu öffnen, die Gründung von Judo-Verbänden im Ausland zu fördern und schließlich Judo und Kendo auch als olympische Sportart zu etablieren.
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Lin Chung
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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von Lin Chung »

Es ging Kano um die Richtung, die Japan allgemein und die Kampfkünste speziell nehmen. Und dazu differenzierte er eben sehr fein in diesem Text zwischen Kampfkünsten und Jujutsu - Kampfkünste "passen" und "gehören" unter das Dach des Judo - Jujutsu dagegen ist etwas völlig anderes. Damit ist klar, um wen er warb, aber auch klar, wovon er sich abgrenzen wollte.
...die Abgrenzung hat er ja schon dadurch herbei geführt, dass er seine Kampfkunst Kodokan-Judo nannte und nicht ...Jujutsu.
Aber das Kodokan-Judo unterscheidet sich sowohl in Zweck als auch größtenteils in der Methode (i.S.v. Technik) vom alten jujutsu. Es existieren zwar Verbindungen und Ähnlichkeiten, aber der Kern ist ein anderer.
Zu meiner Meinung Judo ist ein Jujutsu-Stil:
1. Viele Elemente hat er aus den verschiedenen Stilen entnommen.
2. So stammt auch der Name Judo aus einem dieser Stile.
3. Auch wenn man weitere Elemente aus anderen KKsten einfügt, so ändert sich nichts an der Herkunft des Stils.

Bestes Beispiel ist ja das Taekwondo. General Choi Hong Hi hat in jungen Jahren das Taekkyon gelernt. In Japan lernte er dann das Shotokan Karate , welches er in Korea unter dem Namen Tang Soo weitergab.
Erst, als ihm ein Landsmann sagte, dass er eine Kampfkunst der damals verhassten Japaner seinen Landsleuten lehre, fing Choi an, den Namen abzuändern in Taekwondo und ebenso einige Elemente, wie Techniken und Formen. Doch wenn man genau hinschaut, erkennt man beim Formenlauf Ähnlichkeiten, ebenso bei den Techniken.

Anmerkung:
Aus deinem obigen Text lese ich, dass das japanische Jujutsu laut Kano keine Kampfkunst ist.
Was soll es denn dann sein?
Grüße
Norbert Bosse
ボッセ・ノルベルト

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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von tutor! »

Lin Chung hat geschrieben:
Es ging Kano um die Richtung, die Japan allgemein und die Kampfkünste speziell nehmen. Und dazu differenzierte er eben sehr fein in diesem Text zwischen Kampfkünsten und Jujutsu - Kampfkünste "passen" und "gehören" unter das Dach des Judo - Jujutsu dagegen ist etwas völlig anderes. Damit ist klar, um wen er warb, aber auch klar, wovon er sich abgrenzen wollte.
Anmerkung:
Aus deinem obigen Text lese ich, dass das japanische Jujutsu laut Kano keine Kampfkunst ist.
Was soll es denn dann sein?
Uuups, wenn ich es so lese, könnte man das tatsächlich herauslesen, ist aber nicht so gemeint.

Mir geht es um Sprachgebrauch und daher ist mir in diesem Text aufgefallen, wann Kano den Begriff "Kampfkunst" verwendet und wann er "jujutsu" schreibt.

In der politischen Situation, auch in der sich abzeichnenden Zuspitzung des Konflikts mit der Butokukei, will er das Judo von allem Abgrenzen, was nicht seinen Prinzipien entspricht, und gleichzeitig die Vertreter der anderen Kampfkünste nicht verprellen, weil er sie ja auf seine Linie bringen will.

Das Judo grenzt er daher vom "alten jujutsu" ab (ich hätte vielleicht das "alt" immer dazu schreiben und besser betonen sollen - Kano tat es!), vermeidet es aber, einen Gegensatz zwischen (anderen) Kampfkünsten und Judo zu formulieren.

Beliebige Kampfkünste, wenn sie gemäß der Prinzipien des Judo betrieben werden, bezeichnet er als Anwendungen von Judo, bzw. als Judo in weitem Sinn. Da das alte Jujutsu nicht gemäß der Judo-Prinzipien betrieben wurde, ist es zwar nach wie vor als Kampfkunst zu bezeichnen, aber eben nicht als Anwendung von Judo. Auffällig ist auch, dass sich Kano wenn es um die Unterschiede geht, überhaupt nicht auf Techniken eingeht. Das scheint für ihn gar eine Rolle in dem Zusammenhang zu spielen. Er stellt immer auf das Ziel ab!

Wenn man es rein historisch definiert, kann man Judo natürlich auch als Jujutsu-Stile bezeichnen. Allerdings hat ja Kano selbst mehrfach betont, dass die Unterschiede zu den Wurzeln gravierend sind.
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Olaf
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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von Olaf »

tutor! hat geschrieben:Beliebige Kampfkünste, wenn sie gemäß der Prinzipien des Judo betrieben werden, bezeichnet er als Anwendungen von Judo, bzw. als Judo in weitem Sinn. Da das alte Jujutsu nicht gemäß der Judo-Prinzipien betrieben wurde, ist es zwar nach wie vor als Kampfkunst zu bezeichnen, aber eben nicht als Anwendung von Judo. Auffällig ist auch, dass sich Kano wenn es um die Unterschiede geht, überhaupt nicht auf Techniken eingeht. Das scheint für ihn gar eine Rolle in dem Zusammenhang zu spielen. Er stellt immer auf das Ziel ab!
Grade dieses Betonen der Ziele finde ich den herausragenden Punkt.

In einer anderen Diskussion ging es um den erzieherischen Wert von Sport-, insbesondere Wettkampfjudo. Hier hatte ich auf die Bedeutung von zugrundeliegenden Zielen in der Pädagogik hingewiesen und darauf, dass ich im modernen Wettkampfbetrieb per se keine pädagogische Tätigkeit sehe.
Kano bestätigt hier meine Auffassung. Einem pädagogischen Handeln im Sinne von Judo (und nicht nur im Judo) muss zuallererst das Ziel zugrunde liegen, welches erreicht werden soll. Die Methoden sind zweitrangig. Im alten JuJutsu konnte er solche Ziele offensichtlich nicht erkennen und verwendete deshalb hier nicht die Begrifflichkeit Judo.
Insofern muss man auch beim heutigen Judo sehr fein differenzieren. Alle Judoka, insbesondere die Lehrer, müssen sich nach dieser Definition selbst überprüfen. Betreibe ich Judo um mit meinen Schülern ein pädagogisches Ziel im Sinne Kanos zu erreichen, dann betreibe ich Judo im Kanoschen Sinne.
Unterrichte ich Judotechniken nur um ihrer selbst Willen, ohne dahinterstehendes pädagogisches Ziel (und das Erringen von Medaillen und Erfolgen ist kein pädagogischen Ziel an sich), so betreibe ich eben kein Judo im Kanoschen Sinne sondern Sportjudo. Auch das ist eine tolle Sportart (im Sinne von Kanos Definition eine verwandte Kampfkunst) und diejenigen die es betreiben bringen hervorragende Leistungen, aber es ist wegen des fehlenden erzieherischen Anspruchs eben nicht das was Kano sich unter Judo vorstellte, sondern, um eine Begrifflichkeit zu verwenden die hier entstanden ist, "Sportjudo".
Immer wieder muß das Unmögliche versucht werden,
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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von tutor! »

Hallo Olaf,

damit kombinierst Du den einen nicht unproblematischen Begriff mit einem anderen, nämlich dem Sport-Begriff, der noch viel weniger eindeutig ist. Aber in diesem Fall weiß wohl jeder, was gemeint ist und dem schließe ich mich inhaltlich voll an.

Aus meiner Sicht wird eine Erkenntnis Kanos deutlich, wonach sich dieselben Erziehungsziele mit unterschiedlichen Inhalten verwirklichen lassen - genauso wie umgekehrt mit demselben Inhalt z.T. vollkommen gegensätzliche Ziele verfolgt werden können.

Als Erzieher löst er sich daher zunehmend von den konkreten Inhalten - sie müssen einzig und allein "tauglich" sein - und betont viel stärker die Zielebene. Dabei ist er sich stets der Tatsache bewusst, dass es nicht ausreicht, die Ziele zu definieren, sondern dass sie auch qualifiziert angesteuert werden müssen. Dies ist eine logische Folge der Erkenntnis, dass mit denselben Inhalten unterschiedliche Ziele verfolgt und erreicht werden können, denn wenn Inhalt und (Erziehungs-)Ziel nicht eindeutig aneinander gebunden sind, dann muss es eine Frage der konkreten unterrichtlichen Umsetzung sein, in welche Richtung "erzogen" wird. Daher betont Kano ja auch immer wieder die Notwendigkeit für qualifizierte Lehrer, die mehr beherrschen müssen als "nur" die Techniken des Judo.

Diese grundsätzliche Problematik gilt damals wie heute - kein technischer Bereich des Judo ist per se erziehlich im Sinne Kanos und umgekehrt auch nicht. Sowohl das Wettkampfjudo, die Selbstverteidigung oder die Kata - wie auch immer man die Segmente einteilen oder benennen möchte - können im Sinne Kanos betrieben werden, aber auch genau umgekehrt auf einer Grundlage betrieben werden, die Kanos Ideen widerspricht.

Man muss also wie Olaf schreibt sehr genau differenzieren - und vor allem in die konkrete Praxis schauen. Und da gibt es für alle Bereiche sehr gute, gute, mäßige aber auch negative Beispiele. Es kommt halt auf den Lehrer an und darauf, ob es ihm gelingt, die für die Gesundheit, das Wohlergehen usw. die angemessene Balance zu finden.
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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von Lin Chung »

Auch das ist eine tolle Sportart (im Sinne von Kanos Definition eine verwandte Kampfkunst)
...nein, Sport und Kunst sind zwei unterschiedliche Schuhe.

Kampfkunst
Kampfkünste lernen Selbstdisziplin, Konfliktenvermeidung, Erhöhung der Beweglichkeit, Geschwindigkeit und Kraft. In manchen Stilen ist der vollkommene Mensch das Ziel. (Kanos Judo beinhaltet dieses).
Bei echten Konfliktsituationen ohne Regeln, häufig im Nahkampf, auch unter der Verwendung von Waffen, ist der Gegner kampfunfähig zu machen, wobei die Einhaltung der gültigen Gesetze zu beachten ist.

Kampfsport
Im Kampfsport steht der reglementierte sportliche Wettkampf im Vordergrund.

Hallo Tutor,
um dir mal eine Eselsbrücke zu bauen. Das alte Jujutsu kann man als Kriegskunst bezeichnen und Kriegskünste befassen sich mit dem Verhalten auf dem Schlachtfeld. Hier ist das Ziel, den Feind mit allen Waffen (wozu auch die körperlichen gehören) zu besiegen.

Wenn man jetzt vergleicht, zwischen Kampfkunst (siehe vorher) und Kriegskunst, dann erkennt man den Unterschied.

Das neuere japanische Jujutsu kann man dann wieder als Kampfkunst bezeichnen, da sie sich an die Regeln halten.

Kano hat immer versucht, wie hier auch schon beschrieben wurde, den Einfluss des Militärs aufs Judo zu unterbinden, um eben zu verhindern, dass das Judo zur Kriegskunst wird.
Grüße
Norbert Bosse
ボッセ・ノルベルト

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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von tutor! »

Hallo Norbert,

ich finde Deine Begriffsdefinitionen sehr einleuchtend und sie können auch eine gute Grundlage für Diskussionen sein. Mir ging es jedoch in diesem Faden um etwas anderes, nämlich nicht zu einer begrifflichen Systematik (Kampfsport, Kampfkunst, Kriegskunst etc) zu kommen, sondern darauf aufmerksam zu machen, dass eine Eindeutigkeit in Bezug auf das, was unter "Judo" zu verstehen ist, selbst im Japan der Vorkriegszeit nicht gegeben war.

Da ist zum Beispiel Kano, der 1930 schreibt:
"Die Bezeichnung Judo meint nicht länger nur die Kampfkunst, sondern bezeichnet ein Prinzip, das sich auf alle Bereiche des menschlichen Seins anwenden lässt" (Niehaus, S. 216)

Wenn man nun also einen Text von Kano liest und er darin den Begriff "Judo" verwendet, muss man - um ihn richtig zu verstehen - zunächst ergründen, was er denn in diesem Text unter "Judo" versteht: meint er gerade die Kampfkunst, oder meint er gerade das Prinzip? Wenn er es nicht ausdrücklich dazu geschrieben hat, was wohl bei allen Texten vor 1930 der Fall ist, dann müssen wir es aus dem Kontext erschließen. Das Verfassungsjahr kann uns darauf einen Hinweis geben (bevor er das Prinzip etwa ab 1920 universell formuliert hat, wird er wohl immer die Kampfkunst gemeint haben), aber wir müssen darüber hinaus auch den inhaltlichen Bezug beachten.

Außerdem weist Kano ja noch selbst darauf hin, dass verschiedentlich auch das "alte jujutsu" als Judo bezeichnet wurde, was ihm selbst so nicht recht war. Wir müssen also bei Texten, die nicht von Kano stammen und in denen der Begriff "Judo" vorkommt stets darauf achten, in welchem Sinn "Judo" in dem konkreten Text verstanden wird.

In umfangreichen wissenschaftlichen Arbeiten - wie z.B. der Dissertation von Niehaus - ist es daher absolute Pflicht, zunächst einmal alle benötigten Fachbegriffe zu definieren, damit der Leser weiß, wie er diese Begriffe verstehen soll. Der wissenschaftlich geschulte Leser weiß, dass er diese Passagen stets lesen und verstehen muss, bevor er sich an die eigentlichen Aussagen des Textes machen kann, während der wissenschaftliche Laie diese Vorbemerkungen oft als "Haarspalterei" betrachtet, dann aber den Fehler macht, die im Text gebrauchten Fachtermini mit seinem eigenen Begriffsverständnis zu unterlegen und damit Gefahr läuft, den Sinn der Aussagen zu verfremden oder gar zu entstellen.

Besonders problematisch wird es dann, wenn derartige Passagen zitiert werden und sich dann Leute dazu äußern, die gar keinen Zugriff auf die Begriffsdefinitionen der Originalquellen haben. Eine fundierte Auseinandersetzung mit den Aussagen ist dann nicht mehr möglich und Fehlinterpretationen ist Tür und Tor geöffnet.

Genauso verhält es sich mit dem Begriff "Sport" und die Diskussion darüber (http://www.dasjudoforum.de/forum/viewto ... =20&t=3488) hat ja gezeigt, wie schwer es vielen Leuten fällt, zu akzeptieren, dass dieser Begriff in unterschiedlichen Epochen und aufgrund unterschiedlicher Interessenslagen mit einer anderen Inhaltsbedeutung versehen wurde und wird. Für den wissenschaftlich Gebildeten ist dies jedoch täglich Brot, der wissenschaftliche Laie tut sich da schon schwerer, sollte sich aber IMHO bemühen. Mein damaliger Prof. und wissenschaftlicher Mentor hat uns immer wieder eingebläut: "Je häufiger ein Begriff von vielen unterschiedlichen Menschen unterschiedlicher Vorbildung gebraucht wird - je inflationärer er also in Diskussionen und Veröffentlichungen auftaucht - desto mehr verliert er an Schärfe und Eindeutigkeit."

Niehaus erstes Kapitel heißt folgerichtig auch "Vorbemerkung zu den Begrifflichkeiten" und beginnt mit einem Zitat von Willi Könning, einem Judoka, der längere Zeit in Tenri trainiert und studiert hat und sowohl eine sportpädagogische Ausbildung (BTW u.a. bei Prof. Bernett, auf den sich auch Niehaus bezieht) als auch ein Japanologiestudium vorzuweisen hat. Niehaus setzt sich in der Folge u.a. exakt mit der Begriffsdeutung von "Sport" ganz im Sinne meines damaligen Beitrags auseinander, muss aber für seine Arbeit begriffliche Klarheit schaffen, während ich - damals ("Sport") wie heute ("Judo") - eigentlich nur auf die Nicht-Eindeutigkeit aufmerksam machen wollte.
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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von Lin Chung »

Hallo Tutor
...muss noch einmal zurück auf meine vorige Ausführung.

Meine Meinung on------

1. Judo war zuerst als Kriegskunst zu sehen, da vieles aus den alten Jujutsu-Stilen entstammte.
Demnach ist das traditionelle Judo eine Kriegskunst.

2. Kano wollte eine friedvolle Kunst, die aber auch den Umgang mit Waffen lehrt.
Womit er eine vollkommene Kampfkunst anstrebte.

3. Kano fand die olympische Idee gut, um sein Judo weiterzuverbreiten. Da aber Olympia ein sportlicher Wettstreit war mit Regeln,
hat Kano bestimmte Techniken herausgenommen. Womit der Judosport entstand.

4. Kano konnte sein Werk nicht vollenden.

5. Es gibt noch einige Schriften, die wir wohl nicht zu sehen bekommen.

6. Jede Kampfkunst muss sich weiterentwickeln.
aber der Kern ist ein anderer
womit er den Unterschied zwischen Kriegskunst und Kampfkunst meint

Meine Meinung off-----
Grüße
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Re: Bedeutungswandel des Begriffs "Judo" in Japan vor dem WW2

Beitrag von Fritz »

Im http://judoforum.com fand ich diesen interessanten Gesichtspunkt in einem Faden
der eigentlich über die Kata zum Kontern geht:

http://JudoForum.com/index.php?s=&showt ... t&p=486698
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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